von Hanna Habegger und Alex Martinovits
Welche Bilder hast du vor Augen, wenn du den Begriff „Obdachlos“ hörst? Siehst du einen „Penner“, der mit seinem Schlafsack in einer Ecke schläft? Oder denkst du an einen Süchtigen, der dich für 5 Franken für die Notschlafstelle anbettelt? Im vergangenen Jahr wurden unsere Gäste im Erwachsenenbereich zum Themenbereich Obdachlosigkeit befragt. Damit nahmen wir teil an einer schweizweiten Studie, welche von Forschenden der Fachhochschule Nordwestschweiz durchgeführt wurde. Erstmals wurden im Rahmen dieser Studie verlässliche Zahlen zur Obdachlosigkeit in der Schweiz erhoben.
Als erstes Fazit der Studie kann festgehalten werden, dass Obdachlosigkeit vielschichtiger ist, als allgemein angenommen. Obdachlos ist nicht nur, wer auf der Strasse wohnt, sondern auch diejenigen Personen, welche in Notunterkünften und niederschwelligen Einrichtungen wie Frauenhäusern oder Unterkünften für AusländerInnen übernachten. Es sind Menschen, die bei Freunden und Bekannten unterkommen und kein eigenes Heim besitzen. Ebenfalls werden Personen dazugezählt, welche in unzumutbaren oder illegalen Unterkünften hausen.
Zudem wurde mit der Studie bestätigt, was wir bei Netz4 in der Praxis schon länger feststellen: Zunehmend sind andere Menschen von Obdachlosigkeit betroffen als früher. Die Drogen- oder Alkoholabhängigen, die früher zu den „klassischen Obdachlosen“ gehörten, sind heute in Einrichtungen betreut und subsituiert. 80% der obdachlosen Menschen in der Schweiz sind mittlerweile Migranten und Migrantinnen. Sie kommen auf der Arbeitssuche als Sans-Papier oder mit einem Touristen-Visum in die Schweiz. Neben den Arbeitsmigrierenden gibt es zunehmend psychisch kranke Menschen, welche obdachlos sind. Ebenfalls erwähnenswert ist die „unsichtbare Obdachlosigkeit“ der Frauen. Sie schlafen nur selten auf der Strasse, aber finden Unterschlupf in prekären Unterkünften oder gegen sexuelle Dienste.
Am 28. März besuchten Gian-Duri Mögling und Hanna Habegger die Tagung der Fachhochschule Nordwestschweiz zum Thema Obdachlosigkeit (www.obdachlosigkeit.ch). Die Vernetzung mit verschiedenen Praxisorganisationen schweizweit und mit Vertretenden der Wissenschaft waren wertvoll. Dabei wurde uns bewusst, dass das Netz4 mit seinem Angebot „Ä Nacht schänke“ in Ergänzung zu den Angeboten der Stadt eine wichtige Lücke schliesst. Obdachlose Menschen, welche in den Notunterkünften der Stadt keinen Zugang haben, können in den Räumlichkeiten der EMK eine Nacht pro Woche übernachten. Dabei schätzen sie nicht nur das Schlafen im warmen und trockenen Raum, sondern auch die Tatsache, dass wir die Menschen als Individuen wahrnehmen und eine persönliche Betreuung anbieten können.
Das Angebot von „Ä Nacht schänke“ wird von ehrenamtlich Mitarbeitenden durchgeführt. Im Interview mit Desirée Häussler erhältst du einen kurzen Einblick in die Übernachtung mit den obdachlosen Menschen. Das Interview wurde von Alex Martinovits geführt.
In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag erhalten 10 Personen die Möglichkeit in den Räumlichkeiten der EMK Zürich zu übernachten. Bereits nachmittags ab 16 Uhr sind unsere Türen offen im Rahmen des Angebots «Treff54». Neben der Möglichkeit zu essen und Kaffee zu trinken schätzen Menschen ohne Obdach die Möglichkeit zu reden und Beratung zu finden. Manche möchten einen Laptop benutzen und wieder andere sind froh für eine Dusche und frische Kleidung.
Ab 18 Uhr gibt es ein reichhaltiges Abendessen. Einige ehrenamtliche Mitarbeitende machen abends einen Gasseneinsatz und zwei davon begleiten im Anschluss die Menschen, welche in der Kirche übernachten möchten. Desirée Häussler ist eine davon. Sie arbeitet als Betreuerin in einem Wohnheim für Menschen mit Beeinträchtigung und ist seit Anfang Jahr bei «Ä Nacht schänke» dabei. Sie berichtet: «Ja, beim Angebot «Ä Nacht schänke» mitzuarbeiten ist intensiv. Aber etwas bewirken zu können in einem Bereich, der mir am Herzen liegt, gibt mir Kraft und Motivation.»
Um 21 Uhr hilft man sich als Gemeinschaft gegenseitig beim Betten beziehen, die Männer schlafen im Kirchenraum, die Frauen in der sogenannten «Butigg». Wer will kann die Gemeinschaft auch nach 21 Uhr im Imbissraum fortsetzen. Am Donnerstagmorgen weckt Jürg Geilinger, der vor seiner Pensionierung Leiter des Erwachsenenbereichs bei Netz4 war, die Schlafenden mit einem kleinen Gitarrenkonzert. Es folgen um 07:00 die gemeinsame Andacht mit einem Bibelvers und Gebet und um 07:15 wird gefrühstückt. Anschliessend helfen alle mit beim Aufräumen.
«In den Gesprächen am Abend und am Morgen öffnen sich viele Personen. Mit der Zeit entstehen mit den Stammgästen viele Beziehungen und Vertrauen, und ich werde zur Ansprechperson, auch für Lebensfragen», erklärt Désirée. Als Dank hat sie von einem der Stammgäste auch schon eine selbst genähte, sehr professionell verarbeitete wasserfeste Tasche inklusive Klettverschluss erhalten, die sie an einem Ehrenplatz aufbewahrt.
Warum aber braucht es überhaupt ein derartiges Angebot, da es ja auch offizielle Notschlafstellen gibt? «Viele Gäste fühlen sich in der Kirche sicherer, man muss weniger Angst vor Diebstählen haben, es ist gemütlicher und weniger anonym» erläutert Désirée den Unterschied. «Die Menschen haben Anschluss, und wir erleben ein tolles Gemeinschaftsgefühl.» Das Angebot des Netz4 bietet also einen echten Mehrwert.



